von Boulevard Vogel
In alten Erinnerungen schwelgen, das macht doch jeder. Wie gross war die Freude und das Vergnügen, auf der Geisterbahn seine Runden zu drehen. Im ersten Stock hatte man das Gefühl, man sei dem Himmel und nicht der Hölle näher. Spinnweben, Plastikkäfer und morsche Skelette, welche vor sich selbst Angst hatten, weil die alten Knochen klapperten und sie von den Fahrgästen traktiert wurden – zum Leidwesen des Ausstellers und des Buckligen am Billettschalter.
Essen war erlaubt, Trinkflasche und Sonstiges auch. Sogar schmusen konnte man, um seinem Schatz die Angst vor der Fahrt zu nehmen. Es war für uns kleinen Playboys wie im Himmel auf Erden. Wir waren in den Augen der Girlies die wahren Helden der Herbstmäss. Unsere Rettungsaktionen dauerten doch meist nicht länger als drei Minuten, bis uns die Realität des prüden Messebesuchs wieder eingeholt hatte und die Hosentaschen abermals nach Kleingeld für eine weitere Lustfahrt in einer der alten Holzkisten durchsucht wurden.
Zu dieser Zeit waren wir nicht von oben bis unten, von links nach rechts tätowiert, hatten keine Piercings und zeigten nicht den Mittelfinger. Wir hatten silberne Ketten am Handgelenk – mit unserem Namen eingraviert – und trugen den Schmuck in aller Ehre. Respekt kam von zu Hause. Sind wir aus dieser Generation heute nicht immer noch alle kleine Roadies?
An den Schiessständen in der Kongresshalle herrschte noch grosses Treiben. Die Standbesitzer kamen mir vor wie Marktschreier. Mit dem Züri-Dialekt tönte es von Weitem «Will der Herr emol schüsse?» Luftdruckwaffen waren der Renner. Man wusste nicht, ob sie manipuliert oder einfach nicht sauber kalibriert waren, da unsere Geschosse in alle Richtungen flogen – nur nicht auf die weissen Röhrchen, welche doch nur knapp zwei Meter entfernt in Reih und Glied aufgesteckt waren, das Ziel aber verfehlten. Man wurde auch nicht schlau, ob sie aus Gips oder Plastik hergestellt wurden. Die Schausteller zogen doch alle Register, um die Verteilung der Preise zu umgehen, ausser die Schützin war nett und sympathisch. Die Gewinne waren meist Schlüsselanhänger, Plüschtierchen oder Plastikblumen in allen Grössen, aus dem Reich der aufgehenden Sonne.
Meine Grossmutter Rösli hätte über diese Plastikblumen eine Abhandlung schreiben können. Man nannte sie auch «Kuckucksomi», da in ihrer Stube über dem Tisch eine Kuckucksuhr hing, die mich schon als kleiner Knirps faszinierte. Die ältere Generation nervte sich aber daran, da sich der Vogel alle 15 Minuten zeigte und Kuckuck zwitscherte, aufsässig und unermüdlich war.
Das Warenhaus «Rhybrugg» (heute Manor) war in Sachen Plastikblumen und Grünzeug führend. Auch ich bekam das zu spüren, da ich oft den Gang in die Abteilung Kitsch mitmachen musste. Meine Oma war auf dem Gebiet eine «Koryphäe» oder, um es einfach auszudrücken, «spitze». Bei ihr wusste man nicht so genau, ob es sich um eine Gratwanderung zwischen Kitsch und Sammlerbegierde handelte.
Der Clou des Schiessstands war aber das Schiessen auf den Selbstauslöser, der ein Polaroid-Bild auslöste und man somit ein Alibi hatte, dass man wirklich an der Herbstmäss seine Zeit verbracht hat. War ab und zu gar nicht so schlecht!
Die Himalaya-Bahn war die Superlative und auch ein Treffpunkt in unserer Jugend: lange Haare, Zimmermannshosen und Afghanmäntel. Die Flowerpower-Zeit hatte uns nicht losgelassen, zum Teil auch nur vom Hörensagen. Statt die Schule zu drücken, verbrachten wir Stunden auf den alten Holzböden, die Farbe war schon abgescheuert.
Zu lautem Sound veränderte sich das Licht je nach Einstellung der Lichtorgel, von «Saturday Night Fever»-Discomusik mit John Travolta und Olivia Newton John über Kuschelrock zu Hard Rock. Aber auch Interpreten wie Udo Lindenberg aus der Ex-DDR wurden gespielt und die überdimensionierte Discokugel drehte ihre Runden und projizierte die silbernen Dreiecke unter den Himmel des Fahrgeschäfts. Es war einmalig!
Und immer wieder tönte aus den Lautsprechern «schneller, schneller, schneller». Das war die Zeit, als die Bahn ihre Fahrt über die Wellen und im schwarzen Tunnel beschleunigte. Der beste Platz war immer beim Einstieg ganz aussen. Durch diese Platzierung wurden die drei bis vier Mitfahrerinnen von der Schwerkraft immer nähergebracht, der Arm musste auch eine andere Haltung einnehmen und fand seinen Weg auf eine Schulter. Der Schmerz der Aussenstangen wurde aber immer intensiver und ungemütlicher, je schneller und holpriger die aneinandergereihten Kisten über das Parkett liefen. Was nahm man nicht alles auf sich! Das Motto war, ein Himalaya-Freak kennt keine Schmerzen, und so wurden weitere Runden gedreht und zu seiner Lieblingsmusik fühlte man sich wirklich wie im Himalaya.
Diese Erinnerungen sollte keiner missen und stets in seinen Gedanken tragen, denn auf diese Art wird dies sicher nie mehr zelebriert
Photos by ArtBÄR-BaerMedia-Basel, Einstiegsbild by Sandra Schneider